EIN JAHR INS WELSCHE

notiert April 2018


Sie waren die «jeunes filles» und gingen nach der Schulzeit für mindestens ein Jahr zu einer fremden Familie, meist in die Romandie, «ins Welsche». Im Rückblick erscheint dieses Jahr als lehrreiche und strenge Zeit. Die Mädchen waren billige Arbeitskräfte und während des zweiten Weltkrieges hoch willkommen.


«Mir si haut scho d Dienschtmeitschi gsi.»


REISE INS UNGEWISSE


Mit einem kleinen Koffer verliessen sie ihr Daheim für ein Jahr. Darin wenige Kleider, Jupes, ein, zwei Röcke, das Sonntagskleid, selbstgestrickte Pullover, Pantoffeln, das Waschzeug. Nicht viele Dinge, um so lange fortzubleiben. Bei einigen gehörte auch ein Teddybär zum Allernötigsten. Fehlte etwas, würde es die Mutter nachschicken. Aber mit wenig auszukommen, waren sich alle gewohnt.


Das Ziel war meistens die Westschweiz. Adressen von Familien gab es von älteren Mädchen, die bereits in ihrem Welschlandjahr waren oder es schon abgeschlossen hatten. Diese erzählten von ihren Erfahrungen oder schrieben Briefe und vermittelten auch den Kontakt zum neuen Mädchen. Mit den «Gasteltern» telefonieren konnten die wenigsten vor ihrem Aufenthalt, weil sie daheim meist gar kein Telefon hatten. Auch sonst wurde wenig im Voraus abgemacht. Wenn es für das Mädchen vorher in Ordnung gewesen war, würde es für das neue auch sein.
Man ging ins Welschland, um Französisch zu lernen. Darin waren zwar die meisten auch in der Schule unterrichtet worden, aber viel gelernt hatten sie nicht. Auch Buben gingen ins Welsche. Sie arbeiteten als Knecht bei einer Bauernfamilie. Das war oft sehr streng. Das Welschlandjahr galt meist auch als Voraussetzung dafür, eine Lehrstelle zu erhalten. In gewissen Berufslehren erhielten die Lehrlinge nicht nur keinen Lohn, sie mussten dafür auch noch bezahlen, rund 40 Franken im Monat. Das war eine enorme Belastung, die sich viele Familien nicht leisten konnten. Im Welschen gabs ein Zimmer und Essen, einen kleinen Lohn und gelernt wurde auch etwas. Deshalb hängten manche Mädchen ein Haushaltlehrjahr ans nächste. Es wurde nicht gefragt, ob ein Mädchen ein solches Jahr machen wollte. Man ging einfach. Das war normal. Die Ermahnungen auch: «Blib de dört» und «tuesch de fouge», «chumm glich ume, wie du gange bisch».


«In den Wochen vor diesem Jahr hiess es bei uns, jetz überchunnsch ke Milch, du muesch Gaffee trinke, im Wäutsche isch es de ou so.»


Die meisten Mädchen reisten mit der Mutter zur neuen Familie. Die einen freuten sich, «gwunderig» auf die neuen Erfahrungen, andere fürchteten sich ein bisschen vor der fremden Sprache und den fremden Leuten. Aber es hiess «das wirsch du scho ushalte».


PUTZEN PUTZEN PUTZEN


Die Hauptaufgabe der jungen Mädchen war das Putzen.
Viel zu tun gaben die Parkettböden. Zuerst wurde das Holz mit feinen Stahlspänen abgerieben. Ein Lappen sorgte dafür, dass die stachligen Späne die Hände nicht zerkratzten. Anschliessend wurde das Abgeriebene zusammengewischt, dann der Boden feucht aufgenommen, um den Staub zu entfernen. Jetzt trug man auf den Knien die Wichse mit einem Lappen auf und schliesslich kam der Blocher zum Einsatz, ein furchtbar schweres Gerät, das die ganze Pracht erglänzen liess.


«Beim Spänlen habe ich manchmal das Parkett ‘geritten’, mit einem Fuss auf den Stahlspänen, mit dem andern habe ich angegeben. Das war lustig. Wir haben immer etwas ausgetüftelt, wenn niemand zugesehen hat. Wir waren trotz allem immer noch ‘Saugofen’.»


Auf den Knien putzten sie Böden und Treppen mit Bürste und Schmierseife bis in die hintersten Ecken.
Auch das Fensterputzen gab immer zu tun. Die Fenster wurden mit Wasser, Essig oder Sprit und Zeitungspapier abgerieben. Oft löste sich dabei der Kitt an den Rändern und verschmierte alles.
Weil die Fenster viele kleine Scheiben hatten, gab es auch viele Ecken, die zum Putzen besonders knifflig waren.
Anfangs war immer die Madame dabei, gab ihre Anweisungen und kontrollierte dann von hinten, ob alles genau so gemacht wurde, wie sie es wünschte.
Weitere immer wiederkehrende Arbeiten waren rüsten, beim Kochen helfen, abwaschen. Darauf achten, dass es im Schiff im Herd immer warmes Wasser gab. Für die sauberen Schuhe der ganzen Familie waren meist auch die Mädchen zuständig.


«Immer am Montagmorgen musste ich als Erstes die Schuhe putzen. Zehn Paare waren es mindestens. Zuerst den Schmutz entfernen, dann die schwarze Wichse mit dem Bürsteli auftragen, anschliessend mit einem Wolllappen glänzen.Das dauerte! Nachher waren die Hände schwarz. Ich musste sie mit Vim bearbeiten, um sie wieder sauber zu bekommen.»


Schön war es, mit den kleinen Kindern der Familie spazieren zu gehen oder mit ihnen zu spielen.
«Ich ging gerne mit dem kleinen Buben spazieren, aber ich war ängstlich und kontrollierte jede Sekunde, wo er war. So lernte ich auch meinen ersten französischen Ausdruck, ich hatte ihn bei der Madame gehört: ‘Viens, Pierre!’ Das wiederholte ich ständig!»


Aber das Haushalten nahm weit mehr Zeit in Anspruch als das Kinderhüten.


«Ich musste jeden Tag die Zimmer wischen und ‘flumere’. Nur das Schlafzimmer war immer geschlossen. Eines Tages war es aber offen. Ich putzte auch dort und fand ein Zehnernötli unter dem Bett. Ich legte es auf den Tisch. Madame fragte mich, woher es käme und ich sagte es ihr. Offensichtlich war das eine Prüfung. Nachher durfte ich nämlich im Kiosk der Familie Gemüse, Obst und Marroni verkaufen. Das gefiel mir gut.»


IM GESCHÄFT HELFEN 

Öfters waren es Gastfamilien mit einem Verkaufsgeschäft. Waren die Mädchen erst einmal angekommen und für vertrauenswürdig befunden, durften sie im Verkauf helfen, was schöner war als das ständige Putzen.
Lebensmittel abwägen, in Säckli packen, den Preis berechnen und einkassieren. Und merken, wie man mit der Zeit präziser abwog und die Waage fast nicht mehr benötigte. Oder auch beim Waren ausfahren helfen oder selbständig Gipfeli austragen. Allerdings gehörte das Putzen nach wie vor zu den vorrangigen Pflichten aller Mädchen.


«Eine Kundin wollte sich nie von mir bedienen lassen, sondern nur von der Patronne. Als diese aber mal nicht da war, empfahl ich dieser Frau Eigenmann, doch die besseren Teigwaren zu versuchen, die mit Eiern, die teureren. Sie machte das tatsächlich und von da an bestand sie darauf, von mir bedient zu werden.»


Die Mädchen machten meist, was ihnen aufgetragen wurde. Sie kannten es nicht anders von zu Hause. Aber manche wussten sich auch zu wehren.


«Die Madame befahl mir, am Morgen den Monsieur zu wecken. Sie schliefen im selben Zimmer und die Madame stand später auf. Ich wollte das nicht machen und wehrte mich. Zum Glück gab mir die Grossmutter der Familie recht.»


«Auf dem Estrich hingen immer zwei, drei Speckseiten. Ein Messer war auch da. Ich beobachtete, wie die Kinder der Familie sich dort bedienten. Nach langer Zeit getraute ich mich endlich, hinaufzuschleichen und ein Stücklein des feinen Specks zu stibitzen. Ich hatte Angst, aber alles ging gut!»


Einige Mädchen mussten auch bügeln lernen und zwar nach allen Regeln der Kunst, ganz penibel und ohne Fältchen. Andere liess man nicht bügeln, weil der Aufwand gescheut wurde, es ihnen beizubringen.


«Die Madame merkte, dass ich gut flicken konnte. Also durfte ich mich hin und wieder in den Salon auf den Sessel setzen, Radio hören und Socken und Pullover flicken. Ich machte das ganz schön mit Maschenstich, so dass man nachher nichts mehr sah. Ich liebte diese Nachmittage und war stolz, diese Arbeit tun zu dürfen.»


Die Mädchen wohnten in der Familie in einem eigenen Zimmer und erhielten einen Lohn. 15 Franken pro Monat und alle drei Monate 2 Franken mehr, manche 20, 25, 30 Franken, eines sogar 50 Franken.

«Eigenes Geld verdienen! Das war unglaublich! Von meinen ersten 30 Franken schickte ich 20 dem Mueti heim. Es schrieb zurück, dass das mein Geld sei und ich es für mich behalten solle.»

«Als ich an Weihnachten heim durfte, kaufte ich in der Spenglerei, in deren Haushalt ich arbeitete, einen Rahmschläger aus Metall für meine Mutter. Dafür brauchte ich fast meinen ganzen Lohn.»


HEIMWEH


Die Mutter und die Geschwister fehlten den Mädchen besonders. Das Heimweh war manchmal schlimm. Aber alle wussten, dass sie ausharren mussten.


«Ich wurde richtig krank vor Heimweh, hatte Fieber, mir war schlecht. Ich meinte, ich müsste sterben. Es war wirklich ganz schlimm. Ich schrieb der Mutter, dass ich heimkommen wolle. Sie antwortete, ‘du bleibst, das geht vorbei’. So war es denn auch. Nach drei Wochen ging es besser. Ich hatte überlebt. Aber noch heute spüre ich dieses schreckliche Gefühl.»


Die Mädchen schrieben vor allem am Anfang fleissig nach Hause. Sie klagten ein bisschen, weil sie das Französisch nicht verstanden. Oder schrieben auch nur «es geht mir gut, viele Grüsse».


Der Pösteler wurde sehnlichst erwartet, die tröstenden Worte der Mutter taten gut. Kam länger keine Post, ängstigten sich die Mädchen, ob wohl jemand krank sei daheim. Selten kam ein Päckli mit Äpfeln, einem Cake, vielleicht einer Schoggi. Viel gabs nicht, man hatte auch nicht viel. Während des ganzen Jahres fuhren die Mädchen nur selten nach Hause und einige überhaupt nie. Der Zug kostete und Ferien standen ihnen nicht zu.
Unter der Woche hatten sie ein paar Stunden frei, auch am Sonntag, wenn die Küche am Mittag endlich fertig war und bis zur Zubereitung des Abendessens. Sie trafen sich mit anderen Welschlandmädchen im gleichen Ort, machten zusammen Aufgaben, spazierten und erzählten einander ihre Erlebnisse. Die meisten besuchten einmal in der Woche die Schule, um ihr Französisch zu verbessern.


FREMDE KOST

Man ass anders in der Westschweiz. Es gab andere Gemüse, Fenchel zum Beispiel, nicht nur die ewigen Rüebli, Lauch, Kabis und Kartoffeln. Oder frisches Brot! Das war nicht erlaubt während der Rationierung, hier stand es plötzlich auf dem Tisch. Cremesuppen wurden gekocht und Pommes frites aufgetischt, dabei gab es fast kein Öl. Und Fleisch ass man öfters als daheim. Es schien, dass sich «die Welschen» weniger um Vorschriften kümmerten und viel mehr «mischelten», Beziehungen hatten, auf dem Schwarzmarkt einkauften, tauschten und sich zu helfen wussten. «Darfsch aber niemerem nüt säge», hiess es.


«Als Monsieur und Madame einmal weg waren, durfte ich meine Eltern und den Bruder einladen und für sie kochen. Ich machte Pommes frites. Ich musste grad zweimal machen, sie waren begeistert von diesen neuartigen Kartoffeln!»


Aber auch hier wurde das Gas abgestellt, wenn die zugeteilte Ration verbraucht war. Man schaffte Kochkisten an. Holzkisten, mit Hobelspänen oder anderem gefüllt, mit einer Aussparung für den Topf. Zuerst wurde eine Erbssuppe oder ein Eintopfgericht auf dem Herd kurz aufgekocht, dann sofort zugedeckt und anschliessend stundenlang in der fest geschlossenen Kiste fertig geschmort. So gabs auch mit wenig Hitze ein feines Essen.


WEG MIT DEN ZÖPFEN!


Fast alle Mädchen trugen lange Zöpfe, als sie ins Welsche reisten. Daheim hatte die Mutter sie gekämmt und die Zöpfe schön straff geflochten. Jetzt sollten sie frühmorgens schon mit sauber gemachten Zöpfen zur Arbeit erscheinen. Das war fast nicht möglich. Das Kämmen und Flechten dauerte zu lange.
Auch das seltene Waschen war allein nicht zu meistern. Also schnitten praktisch alle Mädchen bei einem Coiffeur an ihrem Arbeitsort die langen Zöpfe ab - meistens nicht zur Freude ihrer Eltern, die erst nachher davon erfuhren. Die Zöpfe waren begehrt, sie wurden für Perücken verkauft oder man flocht Uhrenbänder für Taschenuhren daraus.


«Ich hatte so feste lockige Haare, dass ich sie allein fast nicht durchkämmen konnte. Am ersten freien Mittwoch an meiner Stelle in Basel liess ich mir deshalb die Haare schneiden und trug die Zöpfe heim – ohne meine Eltern zu fragen. Sie hatten keine Freude, aber meine Mutter verstand es und meine Schwestern folgten meinem Beispiel. Mein Vater hing an den Zöpfen, aber er musste bei der Pflege ja auch nicht helfen.»


«Ich konnte mir den Scheitel einfach nicht gerade machen. Das Mueti schrieb mir dann, ich solle die Zöpfe abschneiden und Dauerwellen machen. Madame meldete mich beim Coiffeur an und bezahlte im Voraus. Ich gab ihr das Geld von meinem Lohn zurück.»


«Ich liess mir die Zöpfe erst vor dem Heimkommen abschneiden. Der Coiffeur behielt sie für sich, ich wusste nicht, dass er mir etwas dafür hätte bezahlen müssen. Er machte mir eine Dauerwelle. Er rollte die Haare in die ‘Bigoudi’ ein und setzte dann heisse eiserne Klammern darauf. Das brannte auf der Kopfhaut. Ich sah furchtbar aus. Meine Mutter sagte mir noch am Bahnhof ‘au Gottschang’. Erst mit der Zeit lernte ich, die Haare so zu kämmen, dass es ging.»


IM RÜCKBLICK


«Man wird älter und erwachsener. Man muss herausfinden, wozu es gut ist.»


«Es war ein Schritt auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Man ging nicht freiwillig aber es war gut so.»
«Ich habe kochen gelernt und das Französisch konnte ich nachher in meiner Lehre als Régleuse sehr gut gebrauchen.»


«Ich war halt schon das Dienstmeitli. Das spürte ich abends allein in meinem Zimmer. Oder wenn Madame mit den Kindern Aufgaben machte. Da gehörte ich nicht dazu. Es war auch wegen der Sprache. Ich musste immer zuerst studieren, bevor ich sprechen konnte.»


«Ich lernte nicht gut Französisch, weil die Madame gerne ein bisschen angab und mit mir oft deutsch sprach. Die Schule durfte ich nicht besuchen wegen der Arbeit. Nur mit dem Buben konnte ich die Sprache üben.»