LEBEN IM ZWEITEN WELTKRIEG

notiert März 2020


Ringsum tobte der Krieg, in der Schweiz war alles knapp und rationiert, aber man lebte in Sicherheit.


«General Guisan wird schon das Richtige tun. Uns wird nichts passieren.»


DER AKTIVDIENST


Am 2. September 1939 galt die Generalmobilmachung: Alle gesunden Männer wurden zum Aktivdienst eingezogen. Das nahm man hin, voller Vertrauen, dass es das Richtige sei.


«In der Nacht hörte man oft das trapp trapp trapp der schweren Soldatenschuhe, wenn die Männer von einem Ort zum andern verlegt wurden. Wir stellten uns dann hinter den Vorhang und schauten ihnen zu.»


«Eine Wissenschaft war das Rollen des Kaputs, des Militärmantels. Man legte ihn auf den Boden, kniete darauf, um ihn flach zu machen und rollte ihn zu einer straffen Wurst, die über den Tornister gelegt wurde. Links und rechts vom Deckel musste jeweils ein genau gleich langes Stück nach unten hängen. War das Ergebnis nicht perfekt, wurde der Vater hässig und man begann von vorne. Rückte ein Soldat mit schlecht gepacktem Kaput ein, gabs eine Strafe.»


«Mein Vater musste einen Tag vor den anderen einrücken. Er war Schmied und musste parat sein für die Hufe der Pferde. Es war schon komisch, als er einfach weg war. Einmal brachte er uns jüngeren Mädchen je eine Brosche heim. Ein Edelweiss, eine Alpenrose und für mich ein Enzian, geschnitzt aus Elfenbein. Das war etwas ganz Besonderes. Später verlor ich sie bei einem Spaziergang in meinem Haushaltlehrjahr im Welschen und durfte sie nicht suchen gehen.»


«Ich weiss noch, wie auf der staubigen ungeteerten Hauptstrasse eine lange Militärkolonne vorbeizog. Schwer beladene Männer zu Fuss, mit bis oben zugeknöpften Uniformen in der grössten Sommerhitze. Wir schleppten Töpfe mit Wasser zur Strasse und alle möglichen Becher und Tassen. Die füllten wir, reichten sie den Männern und rannten ihnen nach, um die Tassen wieder zu holen. Manchmal liess der Zugführer auch anhalten, den obersten Knopf öffnen und die Männer konnten in Ruhe trinken.»


DAS LEBEN DAHEIM


Die Frauen waren allein für Kinder, Haus oder Wohnung und Garten zuständig.


«Wir Kinder halfen dem Mueti mit dem grossen Pflanzblätz im Moos und dem Garten.»


«Meine Mutter durfte als Bernerin gratis im Frauenspital gebären, weil der Vater im Aktivdienst war.»
«Mit der Schule halfen wir auf den Feldern und lasen Kartoffeln oder Obst auf.»


«Wir sammelten in einer Reihe die nach der Ernte übrig gebliebenen Ähren. Wenn sie abgegeben waren, durften wir noch einmal über das Feld gehen und die allerletzten Ähren heimnehmen.»


«Die Ähren liessen wir in Büren dreschen. Dort hatte man eine alte Maschine hervorgeholt.»


«Ich half gerne bei den Bauern. Oft bekamen wir Most zum Trinken.»


«Wir sammelten am Morgen die Maikäfer ein, die von den Obstbäumen geschüttelt wurden. Sie fielen auf ausgelegte Tücher, damit man sie nicht aus dem Gras klauben musste.»


«Auch die Coloradokäfer, die Kartoffelkäfer, sammelten wir mit der Schule auf den Feldern.»


«Wir strickten feldgraue Socken, Mitli (Armstulpen) und Fausthandschuhe.»


«Der Vater steckte seine gebrauchte Wäsche in einen Stoffsack und schickte ihn per Feldpost nach Hause. Die Mutter wusch alles und packte den Sack wieder. Dazu kamen ein Ragusa, ein Stück Kuchen oder ein Landjäger und auch eine Zeichnung der Kinder. Ein kleiner Trost im harten Soldatenalltag.»


«Damals erfand die Firma Camille Bloch den Ragusastengel. Wegen der Nüsse darin brauchte er weniger Schokolade. Haselnüsse waren erhältlich, aber Schoggi war knapp.»


GENERAL HENRI GUISAN


Zu General Henri Guisan hatte man Vertrauen, die meisten dachten, solange er General ist, passiert uns nichts. Man verehrte ihn. Henri Guisan war ein Charmeur, hatte für alle ein freundliches Lächeln und viele Frauen schwärmten für ihn. Trotzdem war er ein richtiger General. Er war eher klein aber hoch oben auf seinem Pferd merkte man das nicht. Er sass kerzengerade im Sattel. Das Bild des Generals hing überall. In den Schulen, in allen öffentlichen Gebäuden, in Restaurants und selbstverständlich in jeder Wohnung. Immer an einem Ort, wo man es gut sah und oft vorbei ging. Es gab Fotos von ihm und Gemälde in schönen Rahmen oder auf Tellern.


«Meine Schwiegermutter führte als junge Frau das Waadtländer Restaurant an der Landi. Eines Morgens kam ein offensichtlich nervöser Herr und sagte ihr, dass er einen Anruf erwarte. Er tigerte hin und her. Als das Telefon läutete, verschwand er in der Telefonkabine. Beim Hinausgehen sagte er zu meiner Schwiegermutter: Voilà, Madame, votre général!»


Soeben hatte die vereinigte Bundesversammlung Henri Guisan zum General ernannt! Es war der 30. August 1939.
General Guisan reiste durch die Schweiz und suchte bei seinen Auftritten den Kontakt mit den Menschen. Jedes Mal kamen viele Leute und auch die Schulkinder. Alle kannten ihn.


«Als General Guisan die Papierfabrik in Cham besuchte, sangen wir Kinder für ihn. Und ich als Drittklässlerin, durfte direkt neben ihm stehen.»


«Wir drei Mädchen waren auf dem Heimweg von der Schule. Da fuhren plötzlich Militärmotorräder an uns vorbei und dahinter ein offener Wagen mit Offizieren. Ein Offizier grüsste uns militärisch, mit der Hand am Hut. Da erst merkten wir, dass es der General war. Voller Freude und Übermut warfen wir die Schulsäcke in die Luft, ui, der General hatte uns kleine Mädchen gegrüsst! Was waren wir stolz! Wenn ich daheim manchmal im Korridor an seinem Bild vorbeiging, grüsste auch ich ihn militärisch.»


«Mit der ganzen Brügger Schule gingen wir nach Biel ans Défilée. General Guisan ritt auf seinem schönen Pferd durch die Stadt.»


«Mein Schwiegervater hatte am gleichen Tag Geburtstag wie der General, am 21. Oktober, und hiess erst noch Henri. Das war wirklich etwas Besonderes!»


Am 12. April 1960 wurde General Henri Guisan zu Grabe getragen. Um 13.30 läuteten die Kirchenglocken im ganzen Land und ein langer Trauerzug bewegte sich durch Lausanne. In der Wochenschau im Kino wurde die Feier gezeigt.


«Es war so traurig zu sehen, wie das Pferd des Generals hinter dem Sarg herging, es liess den Kopf tief hängen. Das hat mich sehr berührt. Alle Kinobesucher weinten.»


DER KRIEG


«Wir fuhren mit der Schule nach Zürich, um die Landi zu besuchen. Kaum dort angekommen, erfuhren wir, dass die Landi geschlossen war, weil der Krieg begonnen hatte. Wir mussten wieder zurückfahren. Bei der Heimkehr sahen wir, dass in Pieterlen ein Haus brannte. Das war für mich der Kriegsbeginn.»


Jeden Tag um 12.30 Uhr hörte die ganze Familie gebannt und mucksmäuschenstill den Mittagsnachrichten zu. «Schwiget jetz!», hiess es. Die Kinder verstanden nicht viel davon, begriffen aber, dass die Lage ernst war. Das sahen sie an den Gesichtern der Eltern.


«Mein Vater hängte eine Europakarte auf. Marschierten die Deutschen in ein Land ein, steckte er dort ein Güfeli, eine Stecknadel, ein. Mit der Zeit waren wir «igüfelet», es wurden immer mehr Stecknadeln. Das machte uns Angst.»


«Dank General Guisan kamen die Deutschen nicht über die Grenze bei Schaffhausen.»
«Als Schaffhausen bombardiert wurde, stellte sich heraus, dass der amerikanische Pilot gemeint hatte, er flöge bereits über deutschem Boden.»


«Ich wohnte nahe am Bodensee. Wir haben gesehen, wie Friedrichshafen brannte. Das machte mir Angst. Würden wir auch bombardiert werden? Als ich dann in die Westschweiz kam ins Haushaltlehrjahr auf einen Bauernhof, war ich erstaunt, wie dort alles locker war. Man nahm die Vorschriften nicht so genau. Als der Polizist einmal Zucker und Öl holte auf dem Hof, gab er keine Rationierungsmarken dafür. Das konnte ich kaum glauben.»


«Viele Menschen, die nahe der deutschen Grenze wohnten und ein Auto oder ein Motorrad hatten, packten das Nötigste ein und fuhren Richtung Innerschweiz und Gotthard. Sie wollten sich in Sicherheit bringen.Wir schauten diesen Kolonnen zu, die nachts bei uns in Cham vorbeifuhren. Später fuhren die Menschen wieder zurück, sie mussten ja irgendwie ihr Leben bestreiten.»


«Man verliess sich auf die Berge. Sie gaben ein Gefühl der Sicherheit.»


Unvergesslich ist die schneidende Stimme Hitlers am Radio. Sie ging durch Mark und Bein. Man hörte auch deutsche Soldatenlieder, die waren rassig und gingen leicht ins Ohr. Deshalb wurden vermehrt Schweizer Lieder gesendet und die Texte dazu in der Radiozeitung veröffentlicht.


«Die Grenzen wurden immer mehr zugemacht. Dass man Juden, die hier angekommen waren, wieder wegschickte, tat mir leid.» «Vor dem Krieg sah ich in Biel einen Schriftzug auf der Strasse, mit Kreide geschrieben. Juden raus, stand da. Das konnte ich nicht verstehen.»


«Wir sahen den Film «Marie-Louise» mit Heinrich Gretler und Annemarie Blanc. Das war eine Sensation! Er erzählte die ergreifende Geschichte von Marie-Louise, einem französischen Mädchen, das zur Erholung von den Bombenangriffen vom Roten Kreuz in die Schweiz gebracht wurde.»


«Nach der Schule arbeitete ich bei einer Bauernfamilie. Da war auch Josef, ein junger Mann, ein Flüchtling aus Deutschland. Eigentlich hätte er arbeiten sollen, aber er konnte nur an das Schreckliche denken, das er erlebt hatte. Er erzählte mir immer vom Krieg. Schliesslich rastete er aus, niemand konnte ihn beruhigen. Er kam nach Münsterlingen in die Klinik. Einmal besuchten wir ihn dort, er freute sich. Aber zurückkommen konnte er nicht.»


«Wir besichtigten einen amerikanischen Bomber, der von der Fliegerabwehr heruntergeholt worden war. Wir staunten über die Säckli mit Notvorrat in Portionen und den Tabletten, um Wasser zu desinfizieren.»


«Es gab Soldaten in zerrissenen Uniformen, die von Deutschland her über die Grenze in den Thurgau kamen. Sie versteckten sich im Wald. Sie hatten Angst und wussten nicht genau, auf welcher Seite der Grenze sie waren. Als sie hörten, dass sie auf Schweizer Boden standen, waren sie froh.»


«Nicht weit von uns war ein Flieger abgestürzt. Wir schauten uns das Wrack an. Nur wenig daneben hatte ein Kind in seinem Wagen gelegen. Das hatte einen Schutzengel gehabt!»


«Meine Schwester schrieb in der Schule ein Briefli an einen Soldaten und erhielt dann von seiner Frau ein Päckli mit Güetzi und Schoggi. Das wollte ich auch gern. Ich schrieb ein lustiges Briefli an «einen Soldaten im Feld», die Militärpost war ja gratis. Aber es kam nie eine Antwort.»


«Meine Mutter half mir, einen Soldaten zu finden, dem ich schreiben konnte – unter der Bedingung, dass ich das dann auch wirklich machte. Ich hielt mich daran und es entwickelte sich eine Freundschaft, die Jahrzehnte überdauerte. Er besuchte uns daheim und kam später sogar an meine Hochzeit. Er hiess Franz Kaiser und war «mein» Soldat. Er nahm dem Krieg ein bisschen den Schrecken.»


DIE VERDUNKELUNG


«Abends mussten wir alle Fenster verdunkeln mit Vorhängen, Teppichen oder dunklem Stoff. Der Vater schlug grosse Nägel über den Fenstern ein, daran hängten wir allabendlich die Verdunkelung. Dazu musste man auf einen Stuhl steigen oder auf die Leiter. Und dann am Morgen alles wieder abmontieren und abends wieder aufhängen.»


«Wir gingen rund ums Haus und kontrollierten, ob alles dunkel war.»


«Eines Abends war ich mit meiner Mutter in der Küche. Sie kochte und es gab viel Dampf. Deshalb öffnete sie Vorhang und Fenster ein bisschen. Da erschien von aussen eine Hand und zog das Fenster zu. Eine Stimme rief: Verdunkelung! Das war der Kontrolleur, der alle Häuser zu kontrollieren hatte. Es war unheimlich.»


BOMBENALARM


«Als im Elsass Bomben fielen, bebte der Boden im Moos, wo wir unseren Pflanzblätz hatten. Wir hörten auch die Detonationen.»


«Wenn Bomben fielen im nahen Deutschland, schrien die Kühe im Stall und der Boden zitterte.»


«Wenn die Sirene losging, hätten wir eigentlich in den Keller gehen sollen. Aber wir liefen nach draussen und warteten auf die Scheinwerfer der Fliegerabwehr. Manchmal kreuzten sie sich und man sah das angepeilte
Flugzeug aufglänzen. In den Keller wollten wir nicht, wir waren ja nicht im Krieg.»


«Am Anfang des Alarms war dieses lauter werdende Geheul, am Ende kam nur ein langer Ton. Darauf wartete man sehnlichst und war froh, es zu hören.»


«Ich war damals im Tessin, da schauten wir immer an den Himmel und hofften, die Bomber würden nach Italien fliegen und nicht über uns bleiben.»


«Von Cham aus sahen wir, wie es in Friedrichshafen brannte, alles war rot, Tag und Nacht. Wir hofften einfach, dass wir verschont blieben, Angst hatten wir nicht wirklich.»


«Die Bomber waren laut, wenn sie über die Schweiz Richtung Deutschland flogen. Kamen sie zurück, war der Ton höher und leiser. Sie hatten ihre Bomben abgeworfen.»


DIE POLEN


In Büren gab es ein Barackenlager mit internierten Polen. Bauern konnten einen Polen «mieten», diese halfen in der Landwirtschaft, bauten Waldwege und machten sich überall nützlich. Da fast alle Männer im Aktivdienst waren, gab es genug zu tun. Die Polen galten als «anständige Leute» und waren «schaffig».


«Wir hatten noch lange nach dem Krieg Kontakt zu einem Polen und seiner Familie in Frankreich.»


«Es gab Polen, die rund um ihre Baracke Blumen und Kartoffeln pflanzten.»


«Ich machte Kommissionen für eine alte Frau und half ihr im Garten. Eines Tages sollte ich den polnischen Mann, der in ihrem Garten arbeitete, zum Zvieri rufen. Wie sollte ich das tun? Ich lockte ihn mit dem Zeigefinger an und machte die Gebärde des Essens. Er verstand mich sofort. Ich musste lachen. Auch er verständigte sich mit Zeichen, fuhr mit den gespreizten Fingern über den Boden, wenn er einen Rechen brauchte.»


«Wir durften keine Freundschaften mit polnischen Männern eingehen. Mädchen, die das doch taten, wurden gemahnt, es sein zu lassen.»


«Auf offenen Camions kamen polnische Soldaten aus Frankeich. Sie fuhren durch Brügg und riefen: Vive la Suisse! Wir lachten und winkten ihnen zu. Sie wurden in Schulhäuser verteilt und schliefen in den Turnhallen.»


DAS KRIEGSENDE


«Ich war aus der Ostschweiz erst seit ein paar Tagen in einem Dorf in der Westschweiz. Da fuhr ein Mann auf dem Velo durchs Dorf herab, blies in ein Horn und rief etwas. Ich verstand noch kaum Französisch und fragte nach. Er rief den Frieden aus. Es muss der 8. Mai 1945 gewesen sein.»


«Im ganzen Land läuteten die Kirchenglocken.»


«Man freute sich und war erleichtert.»


«Zürizitig! Extrablatt! So tönte es in der Stadt Zürich!»


«Ich fuhr nach dem Krieg als au pair-Mädchen mit meiner Genfer Familie nach Dänemark. An den Bahnhöfen in Deutschland gab es keine Scheiben mehr und viele Häuser hatten kein Licht. Sie waren ausgebombt. Es sah schrecklich aus. Da wäre ich am liebsten umgekehrt.»