KALTE WINTER

notiert Januar 2018

Die Winter waren kalt in der Zeit zwischen 1925 und 1945. Gelassen ertrugen man die allgegenwärtige Kälte, 


«Es isch haut eifach so gsi.»


KÄLTE UND SCHNEE


Die Winter waren lang, der Schnee blieb liegen. Draussen fror man, drinnen fror man ebenfalls oft. Viele husteten, hatten den Schnupfen, bekamen Lungenentzündungen.


«Wir froren vor allem an den Füssen und hatten oft Gfrüri, Frostbeulen. Die juckten und schmerzten. Die fast gefrorenen Finger rieben wir mit Schnee ein, auch sie schmerzten, wenn man von der Kälte hereinkam. Wir sagten dem, die Finger kuhnegelen.»


In vielen Häusern, vor allem auf dem Land, stand ein Kachelofen in der Küche. Kam man von der Kälte ins Haus, hatte mit klammen Fingern die vereisten Schuhbändel gelöst, setzte man sich auf die warme Ofenbank und hatte bald wieder warm.

«Manchmal brieten Äpfel im Ofenrohr. Wenn wir Glück hatten, waren sie mit Haselnüssen und Zucker gefüllt. Diesen feinen Apfelduft vergesse ich nicht. Die Äpfel löffelten wir aus, die Schale war wie ein Schüsselchen um das weiche warme Innere herum.»                                                                                                                                   

«Wir haben draussen im Brunnen Wäsche gewaschen. Oder auch in der Waschküche, die musste man ganz früh einfeuern, wenn es noch finster war. Im Herbst und im Frühling, vor und nach dem Winter, wurde viel gewaschen und es gab eine lange, lange Wöschhänki. Im Winter wusch man nur das Allernötigste, aber Windeln hatte es meistens. Deshalb gewöhnte man die Kinder auch so rasch als möglich ans Töpfchen.»

«Die Wäsche gefror draussen an der Leine. Die steifen Hemden, Hosen und Leintücher wurden zum Austrocknen in die Stube gebracht. Die einzelnen Stücke konnte man grad auf den Boden stellen! Als sie langsam tauten und weich wurden, roch es köstlich, nach Kälte und frischer Luft, ganz sauber. Oh, roch das gut!»

«Man verbot uns, die kalt gefrorenen Kleidungsstücke draussen an der Leine zu verbiegen. Sie würden auseinanderbrechen. Wir versuchten es trotzdem und es passierte gar nichts.»

«Wir wurden gewarnt, auf keinen Fall das Eis auf einem Eisengeländer abzulecken. Ausprobieren mussten wir es natürlich… aber nur einmal! Das schmerzte, wenn die Zunge festklebte. Ich erinnere mich an einen Knaben, der beim Schulhaus genau das versuchte und prompt am Geländer kleben blieb. Er wollte die Zunge zurückziehen, aber es ging nicht. Wir riefen den Hauswart. Der kam mit warmem Wasser und erlöste den armen Kerl. Er blutete und hatte grosse Schmerzen.»


IN DER WOHNUNG


In der Küche wurde es warm, sobald man den Kochherd einfeuerte oder den Kachelofen. Der heizte auch die Wohnstube. Das Ofenrohr führte in einem Bogen zum Kamin, so gab es zusätzlich Wärme ab.
Die anderen Zimmer waren ungeheizt. Man öffnete die Zimmertüren, damit sich die Wärme ein bisschen verteilte. Tat man das nicht, konnte es passieren, dass die Dachbetten im Schlafzimmer grau wurden, weil es Kondenswasser gab und sie deshalb immer ein bisschen feucht waren.

«An den Fenstern wuchsen Eisblumen, das sah schön aus. Hauchte ich darauf, gab es ein anderes Muster.»


Längst nicht alle Wohnungen hatten Bäder. Man wusch sich in der Küche mit kaltem Wasser. Gab es ein Bad, so musste zuerst der Boiler mit Holz eingefeuert werden, um das Wasser aufzuheizen.

«Weil die Betten eiskalt waren, hatten wir eine Bettflasche. Die war aus Messing oder anderem Metall, oval und flach. Verschlossen wurde sie oben mit einer Schraube und sie steckte in einer selber gestrickten Hülle, damit einen das heisse Wasser nicht verbrühte.»

«Auch Säckli mit Kirschensteinen oder Hirse gaben schön warm, die legte Mueti ins Ofenguggeli zum Aufwärmen. Ich vergrub gern meine Zehen im warmen Säckli und kuschelte mich mit dem Bäri oder dem Bäbi tief unter das dicke Federduvet, die Wolldecke und das Oberleintuch.»


Im Herbst wurden die Vorfenster eingehängt, die halfen gegen die Kälte. Zwischen Innenfenster und Vorfenster legte man ein Kissen oder Stroh, Holzwolle, Moos oder ein Tuch, so zog es weniger. Der Zwischenraum in den Fenstern diente auch als Kühlschrank, jedenfalls wenn es nicht allzu kalt war. Sonst gefror die Milch.


«Wir mussten im Wald Miesch (Moos) holen, um es zwischen die Fenster zu legen. Das machten wir gern, da kontrollierte uns keiner. Einmal fing ich dabei eine Haselmaus. Die war so herzig mit ihren schönen, grossen Augen. Ich steckte sie in meine Tasche und nahm sie heim. In der Stube liess ich sie frei. Meine Grossmutter ˝tat wie eine Wiggle˝ und hatte Angst, die Maus würde das Kanapee anfressen. Da fing ich sie wieder ein und brachte sie in den Wald zurück.»


«Am Abend sass die Familie zusammen in der Wohnstube. Wir Mädchen strickten, das war uns ganz recht, so mussten wir nicht so früh ins Bett. Es gab auch viel zu tun, ein Strumpf ist ein langes Ding. In der Schule lernten wir, wie man einen Daumenspickel strickt für Fausthandschuhe. Kappen machten wir auch selber.
Komplizierter wurde es, als die Norwegermuster aufkamen. Um die schönen Sterne einzustricken, musste man hinter dem Gestrick einen zweiten Faden nachziehen. Wenn man nicht ganz gut aufpasste, dass er locker blieb, zog es alles zusammen und man konnte von vorn anfangen. Auch das Mueti und das Grossmueti strickten oder flickten am Abend. Alle Kleider, gestrickt und genäht, wurden geflickt und geflickt bis es nicht mehr ging.»


«Ich erinnere mich an einen Norwegerpulli, den ich gestrickt habe. Er war hellgrau mit einem schwarzen Hirsch und Sternen. Die Muster hatte ich mir auf Hüselipapier aufgezeichnet. Der Pulli wurde wirklich schön.»


KLEIDER GEGEN DIE KÄLTE


«Wir Mädchen trugen ein Gstältli. Das war ähnlich wie ein Hemd geschnitten, kurz und ohne Ärmel. Unten an den Aussenseiten war ein Knopf aufgenäht, ebenso an den Strümpfen. Die beiden Knöpfe wurden an einem Gummiband mit Schlitzen eingeknöpft. Das Ganze war ein bisschen angespannt, so dass die Strümpfe hielten.»
«Zwischen Gstältli und Strumpf war das Bein ein Stück weit nackt, da spürten wir die Kälte – ausser es gab noch lange Unterhosen. Bei den Buben war der Knopf innen in den gefütterten Hosen eingenäht und wurde ebenfalls mit einem Gummiband an den Strümpfen festgemacht.»


«Einmal fiel von meinem Gstältli auf einer Seite ein Knopf ab, als ich von der Schule heimging. Ich musste ganz schräg gehen, um den Strumpf festzuhalten. Sonst wäre er bis auf die Schuhe gerutscht. Es war so kalt und es dauerte, bis ich daheim war.»


«Die Strümpfe waren handgestrickt und kratzten auf der Haut. Trug man sie ein paar Tage, weiteten sie sich etwas aus und wurden ein bisschen glatter und kratzten weniger. Aber dann gab es frische. Und am Sonntag weisse Strümpfe, die aber meist schon am Mittag schwarze Knie hatten.»


«Über das Gstältli kamen ein Libli und ein Pullover, zum Hinausgehen zog man eine Jacke darüber an, aus Stoff oder auch gestrickt mit Taschen, um die Hände darin zu wärmen. Manche hatten auch einen Mantel aus kratzigem Stoff und am Sonntag ein Samtmänteli mit passendem Hut.»


Mädchen trugen fast immer Jupes oder Röcke. Höchstens beim Schlitteln durften manche unter dem Rock Pumphosen aus Trikot mit einer frotteeähnlichen Innenseite anziehen oder wenn man mit den Skiern zur Schule ging. Buben trugen entweder Halbmaster oder Knickerbocker, «Gagufänger» hiessen sie und waren in dreiviertel Länge mit einem Band zugeknöpft.


«Zum Skifahren durfte ich Skihosen tragen. Das waren Überfallhosen (oder Norwegerhosen), sie waren weit geschnitten und fielen mit einem angestrickten Bördli über die Schuhe. So blieb der Schnee draussen. Sie waren selber genäht aus einem dunkelblauen imprägnierten Wollstoff. Ich war die einzige im Dorf, die Hosen trug. Die Schulkommissionsmitglieder und der Pfarrer wollten mir verbieten, dass ich auf meinem langen Schulweg mit den Skiern diese Hosen anzog. Meine Eltern setzten sich durch und meine praktischen Hosen wurden erlaubt.»


«Ich ging in eine Schule, die von Nonnen geführt wurde. Weil der Schulweg lang war, gab mir meine Mutter selber genähte Skihosen, damit ich nicht so fror. Das passte den Nonnen aber überhaupt nicht und meine Mutter musste deswegen in der Schule vortraben. Sie sagte, das komme gar nicht in Frage, dass ich einen Rock anzöge in diesem Schnee und auf dem weiten Weg. Schliesslich einigten sie sich. Ich durfte in meinen Hosen bis zur Schule gehen und musste mich dann in der Toilette umziehen und im Jupe zum Unterricht erscheinen.»

Eine Zöttelikappe und Handschuhe, die oft mit einem langen Band um den Hals vor dem Verlieren gesichert waren, schützten vor der Kälte. Auch Mitli, die Handgelenkwärmer, waren beliebt. Wohlhabendere und vor allem Leute aus der Stadt trugen einen Muff aus warmem Stoff mit einem gestrickten Überzug oder gar mit Pelz. Meistens waren alle Kleider innert kürzester Zeit nass und gefroren.


«Kam ich nach Hause und musste dringend aufs WC, war es fast unmöglich, mit steifen Fingern rasch die vereisten Schuhbändel und die steif gefrorenen Kleider auszuziehen.»


SCHUHE IM SCHNEE


Auch im Winter trug man Holzböden. Der Schuhmacher stellte sie selber her und nagelte dickes schwarzes Leder an die hölzerne Sohle. Es formte den Oberschuh und war mit Schafwolle oder Stoff gefüttert. Über die lange Zunge band man über Kreuz die Bändel.


«Ich höre noch, wie der Schuhmacher geduldig das zähe Leder weicher klopfte, bis er es formen konnte. Er gebrauchte einen Leim, der mir in die Nase stieg. Ein wunderbarer Duft!»


An der Spitze der Sohle und am Absatz war ein Stück Gummi oder Leder aufgenagelt, damit man auf den glatten Holzböden weniger rutschte.


«Aber leider liess sich damit auch nicht mehr ziferlen (rutschen)!»


Manchmal steckten auch nur viereckige Nägel in der Holzsohle. Waren sie abgelaufen, schlug man wieder neue ein. Es gab auch halbmondförmige Metallplättchen, die an Spitze und Absatz befestigt wurden.


«Wenn es viel Schnee hatte und er klebrig war, gab es Stoglen in der Mitte der Sohle und es liess sich darauf herrlich gigampfen. Nur gehen war schwierig, da war es gut, sich an einem Zaun festhalten zu können.»


Die Holzböden verursachten gehörigen Lärm – man stelle sich eine Schulklasse mit 30 oder 40 Kindern vor, die in Holzböden daherkommen! In späteren Jahren wurde dieser Lärm nicht mehr toleriert.
Es gab auch normale Lederschuhe, aber die waren viel teurer.
Jeden Samstag mussten die Kinder die Holzböden der ganzen Familie putzen, wichsen und glänzen.


«Wenn wir auf die Schuhe spuckten, glänzten sie besonders schön!»

HOLZEN UND HEIZEN


Holz zum Heizen beschaffte man sich auf verschiedene Weise.
Im Krieg wurde viel gesammelt, vor allem Tannzapfen und kleine Äste. Die Zapfen wurden auch abgeschüttelt. Die Wälder waren sauber und aufgeräumt. Ganze Schulklassen gingen zum Sammeln in den Wald. Das Schulzimmer wurde an manchen Orten nur auf 16 Grad geheizt. Da sass man halt in allen Kleidern am Pult und turnte ab und zu. Andernorts mussten die Kinder Holz in die Schule bringen.


«Im Krieg war es nicht erlaubt, sich im Wald mit Holz zu bedienen. Nur ganz dünne Ästlein durfte man nehmen. Wenn wir mit dem Leiterwägeli in den Wald gingen, versteckten wir manchmal dickere Äste unter den dünnen. Hatten wir Pech, kontrollierte uns ein Polizist, der extra zu diesem Zweck im Wald unterwegs war. Hatte er eine gute Laune, ermahnte er uns und liess uns laufen, wenn nicht, mussten wir die Äste ausladen und liegen lassen.»


Aus den kleineren Ästen machte man Wedele und benutzte sie zum Anfeuern des Kachelofens.
Manchmal versteigerten die Gemeinden Holz, manche Väter kauften Holz bei Bauern oder gingen auch selber holzen. Gekauftes Holz wurde in Spälten abgegeben, also in metrigen Stücken vom Baumstamm. Entweder sägte man sie daheim selber oder der Sager kam am Wochenende mit seinem Traktor und der grossen Sägemaschine. Die Kinder reichten ihm die Spälten Stück für Stück und schauten zu, wie sich das Sägeblatt durch das Holz frass. Anschliessend musste noch gehackt werden, damit die Scheiter in den Küchenofen passten. War Stricken Frauenarbeit, war das Holzhacken Männerarbeit. Grössere Buben, der Vater und der Grossätti übernahmen es.


Das gescheitete Holz wurde am Boden ausgebreitet und dann nach und nach von den Kindern zum Trocknen ins Haus getragen. Viele Häuser hatten eine Öffnung unter dem Dachfirst, darüber einen Haken, an welchem man ein kleines Rad befestigte mit einem Seil, das bis auf den Boden reichte. Die Kinder füllten einen Korb mit Holz, der hochgezogen und auf dem Estrich ausgeleert und wieder nach unten geschickt wurde.
Das Holzbeigen war eine Kunst für sich. Die Scheiter kamen nicht irgendwie auf eine Beige, sondern so, dass die Beige gut aussah und nicht zusammenstürzte.

Es gab auch Kohle, Koks und Briketts, die waren im Krieg aber rationiert, weil sie aus dem Ausland eingeführt wurden. Deshalb heizte man mit Holz oder mit Torf. Im Seeland wurde an verschiedenen Orten Torf gestochen. Man bot arbeitslose Männer dafür auf.


«Auch wir Kinder halfen mit. Wir schichteten die Torfwürfel zum Trocknen schräg versetzt auf und wendeten sie nach einiger Zeit jeweils um eine Vierteldrehung. Ein Camioneur aus dem Dorf sammelte in den Schulferien jeweils grössere Kinder ein und brachte sie zum Torfplatz. Das gab einen kleinen Verdienst. Beim Abstechen der Turben kam Grundwasser nach. Darin hatte es oft Frösche und kleine Schlangen.»


Die Wurzeln der gerodeten Bäume wurden in mühsamer Arbeit ausgegraben, getrocknet und auch zum Heizen verwendet. Das Torfstechen war nur an bestimmten Tagen erlaubt. Trotzdem war es plötzlich vorbei, weil es keinen Torf mehr gab.


Aus im Brunnen eingeweichtem Zeitungspapier stellte man Brennmaterial her. Entweder klumpte man das nasse Papier zusammen und liess es trocknen oder man presste es in einer selber hergestellten Presse zu Papierbriketts. Die brannten zwar nicht besonders gut, gaben aber doch ein bisschen warm.


Koks hatte noch eine besondere Verwendung: Wenn Kinder die Goggelüsche (Coqueluche, Keuchhusten) hatten, wurde manchmal ein Säcklein damit gefüllt und im Zimmer aufgehängt. Man sagte, dass davon das Atmen erleichtert würde.


«Wir mussten dem Lehrer Holz in den Estrich tragen, Ein paar Buben entdeckten, dass er dort einen Kessel mit Honig stehen hatte. Jedesmal, wenn sie daran vorbeigingen, steckten sie einen Finger hinein und leckten ihn ab. Bald wussten alle Kinder davon und bedienten sich. Leider merkte es der Lehrer und stellte den Kessel weg.»


«Morgens, als wir in die Schule kamen, war das Schulhaus voller Soldaten. Das waren Spahis, algerische Soldaten, die geflüchtet waren und von der Schweiz aufgenommen wurden. An diesem Tag mussten wir Körbe voller Holz in den Estrich tragen. Ich fasste meinen Korb, da kam plötzlich ein grosser dunkelhäutiger Spahi und nahm ihn mir ab. Er fand wohl, der Korb sei zu schwer für mich und wollte mir helfen. Also ging ich vor ihm die Treppe hoch und zeigte ihm, wo das Holz hinkam. Ich war stolz und auch ein bisschen ängstlich. Ich hatte noch nie einen Menschen mit dunkler Haut gesehen. Die Soldaten trugen für uns alles Holz hinauf.»